Analyse: Das Kreuz in der Schule und das Grundgesetz

In seinem Kruzifix-Urteil gab das Verfassungsgericht schon vor 15 Jahren die Linie vor.

Düsseldorf. "Christliche Symbole gehören nicht an staatlicheSchulen." Mit dieser Forderung hat die designierte niedersächsischeSozialministerin Aygül Özkan (CDU) die Politiker aus dem eigenen Lagererzürnt. Heute soll sie als erste Frau mit Migrationshintergrund inDeutschland ein Ministeramt übernehmen. Der frühere bayerischeWissenschaftsminister Thomas Goppel (CSU) erinnerte die 38-Jährige andas Grundgesetz. Dieses sei nach der Nazi-Barbarei mit Rückbesinnungauf das christliche Menschenbild verabschiedet worden.

In der Tat ist in der Präambel der Verfassung von der "Verantwortungvor Gott" die Rede. Von Kruzifixen in Schulen steht dort jedoch nichts.Letztlich hat die türkischstämmige Juristin Özkan nur das zu Endegedacht, was das für die Auslegung des Grundgesetzes zuständigeBundesverfassungsgericht schon 1995 formuliert hatte. ImKruzifix-Beschluss hatten die höchsten Richter geurteilt: "DasAnbringen eines Kreuzes in Unterrichtsräumen einer staatlichenPflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, verstößt gegen Artikel4Grundgesetz (Religionsfreiheit)."

Damals hatte ein Elternpaar dagegen geklagt, dass seine Kinder inSchulräumen unterrichtet werden, in denen einen Kreuz hängt. DieKarlsruher Richter gaben ihnen Recht. Begründung: Artikel 4 desGrundgesetzes garantiere die Freiheit, nach eigenenGlaubensüberzeugungen zu leben und zu handeln, an kultischen Handlungenteilzunehmen oder solchen fernzubleiben. Ebenso bleibe es dem Einzelnenüberlassen zu entscheiden, welche religiösen Symbole er verehre undwelche er ablehne. Der Staat müsse gegenüber den unterschiedlichenReligionen und Bekenntnissen neutral sein.

Die Richter betonten, angesichts der allgemeinen Schulpflicht seiendie Schüler während des Unterrichts ohne Ausweichmöglichkeit mit diesemSymbol konfrontiert und gezwungen, "unter dem Kreuz" zu lernen. DasKreuz weise die von ihm symbolisierten Glaubensinhalte als vorbildhaftaus. Für den gläubigen Christen sei es Gegenstand der Verehrung. Fürden Nichtchristen oder Atheisten hingegen sei es daneben auch dasSymbol der missionarischen Ausbreitung des Christentums.

In der Praxis blieb das Urteil freilich weitgehend ohne Folgen.Kreuze in Klassenzimmern gehören weiterhin zum Alltag. Es bleibt demEinzelnen überlassen, sich gegebenenfalls unter Berufung auf dieKarlsruher Entscheidung dagegen zu wehren.

Auf derselben Linie wie schon vor 15 Jahren dasBundesverfassungsgericht liegt auch der Europäische Gerichtshof fürMenschenrechte. Der gab Ende 2009 einer Italienerin Recht, die zuvor imeigenen Land bis in die höchsten Instanzen damit gescheitert war, ihreKinder in Räumen ohne religiöse Symbole unterrichten zu lassen. Erstvor dem Straßburger Gericht setzte sie sich durch.

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