Erdogan-Referendum Unbewältigte Vergangenheit: Die verweigerte Integration

Die Ja-Stimmen der Deutsch-Türken zum Erdogan-Referendum zeigen, dass viele sich den Werten des Westens bis heute nicht angepasst haben. Zur Wahrheit gehört aber auch: Die Anpassung der Türken war lange Zeit von deutscher Seite nicht erwünscht. (1/2)

Erdogan-Referendum: Unbewältigte Vergangenheit: Die verweigerte Integration
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Düsseldorf. Heinz Kühn (1912-1992) hatte seine politische Karriere hinter sich, als er 1979 ein Memorandum mit dem sperrigen Titel „Stand und Weiterentwicklung der Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien in der Bundesrepublik Deutschland“ vorlegte. Der Sozialdemokrat Kühn, der von 1966 bis 1978 als fünfter NRW-Ministerpräsident Vorreiter der sozial-liberalen Koalition war und die gravierenden Probleme des Landes (Strukturwandel Ruhr, kommunale Gebietsreform, Durchsetzung der Gesamtschule) anpackte, forderte nicht weniger als die Anerkennung, dass Deutschland zu einem Einwanderungsland geworden sei — mit den entsprechenden Konsequenzen.

Wer weiß: Hätte Helmut Schmidt (SPD) damals auf Kühn gehört, würden sich heute vielleicht dank einer gelungenen Integration weitaus weniger Deutsch-Türken für türkische Innenpolitik interessieren, weniger türkisches Staats-TV konsumieren und immun gegen die Hetze der Imame sein. In seiner Funktion als erster „Beauftragter der Bundesregierung für die Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen“ forderte Kühn, den mutmaßlich in großer Zahl „bleibewilligen Einwanderern, namentlich der zweiten und dritten Generation, muss das Angebot einer vorbehaltlosen und dauerhaften Integration gemacht werden“. Das hätte schon 1979 und nicht erst 1998 Regierungspolitik sein können.

Es hätten sich, so Kühn, bereits gravierende Bildungs- und Ausbildungsnachteile ergeben, die einen großen Teil der ausländischen Jugendlichen in eine Außenseiterrolle drängten, „die nicht nur für den Einzelnen schwerste persönliche Probleme schafft, sondern auch in den Kriminalstatistiken evident wird“. Kühn zeigte die Alternativen auf: Entweder mehr Geld für Bildung und Ausbildung junger Ausländer oder es würden bald „anstelle eines Lehrers zwei Ordnungskräfte notwendig“.

Ausländer meinte schon 1978: vor allem Türken. Von Anfang an hatte sich das am 30. Oktober 1961 geschlossene Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei von allen anderen Gastarbeiter-Verträgen unterschieden. Kommen sollten nur unverheiratete Männer, rekrutiert werden sollte ausschließlich in den „europäischen Gebieten“ der Türkei, eine Eignungs- und Gesundheitsprüfung wurde vorgeschrieben, jeglicher Familiennachzug ausgeschlossen und eine Aufenthaltsbegrenzung auf längstens zwei Jahre ohne Verlängerungsoption festgeschrieben. Weder wollte die Bundesrepublik Türken einwandern noch die Türkei Türken auswandern lassen.

Deutschland benötigte dringend Arbeitskräfte: Nach dem Mauerbau im August 1961 versiegte der Strom gut ausgebildeter DDR-Flüchtlinge, Teile der Wirtschaft, besonders im abgeschnittenen West-Berlin, standen vor dem Zusammenbruch. Die Türkei benötigte vor allem Geld: „Alleine 1972 überwiesen die türkischen Arbeitnehmer 2,1 Milliarden DM in ihr Heimatland, womit das Handelsbilanzdefizit der Türkei von 1,8 Milliarden DM überkompensiert wurde“, heißt es in einem Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung. Doch bereits knapp ein Jahr nach dem Vertragsschluss lief die deutsche Wirtschaft Sturm gegen die Beschränkung der Bleibedauer: Es war den Betrieben zu teuer, alle 24 Monate neue Gastarbeiter anzulernen; ab 1964 war die Befristung aufgehoben.

Das Kommen und Gehen funktionierte leidlich zwischen 1961 und 1972 (Zuzug: 867 000 Personen, Rückkehr: 500 000 Personen), als türkischstämmige Gastarbeiter diejenigen aus Italien erstmals als stärkste Ausländergruppe in Deutschland ablösten. Dann kam mit der Öl-Krise 1973 der Anwerbestopp: Wer als Nicht-EU-Bürger Deutschland verließ, hatte keine Aussicht auf Rückkehr. Während fast die Hälfte der griechischen und spanischen Gastarbeiter in ihre Heimatländer zurückkehrte, holten die Türken ihre Familien nach Deutschland, zumal die innenpolitische Lage der Türkei (Bürgerkrieg, Militärputsch, Geldentwertung) sich bis zu den frühen 80er Jahren ständig verschlechterte.

Frage in der „FAZ“ im Sommer 1973 und dazu gleich die Antwort:

Heinz Kühns Memorandum enthielt die sachlich richtigen Antworten auf das sich abzeichnende Problem, eine weitgehend unintegrierte, wirtschaftlich und sozial gefährdete Ausländergruppe von damals 1,4 Millionen Menschen im Land zu haben, auf die die Mehrheit der Deutschen mit Ablehnung reagierte. Im Sommer 1973 fragte die bürgerlich-besorgte „FAZ“: „Werden die Türken die Neger des Ruhrgebiets?“ Antwort: „In Gelsenkirchen sind sie es schon.“ Ein einziges Mal lösten die Lebens- und Arbeitsumstände türkischer Gastarbeiter in der Bundesrepublik echte Betroffenheit aus — weil sich der Verkleidungs-Journalist Günter Wallraff 1985 in der Rolle des Türken Ali Sigirlioglu nach „Ganz unten“ begab. Trotz der Millionenauflage des Buchs, das bei der Leiharbeit zu gesetzlichen Verbesserungen führte, schlug der Zeitgeist in eine andere Richtung aus.

Auf dem Weg zu einer multi-ethnischen Gesellschaft hat die Bundeszentrale für politische Bildung die Jahre zwischen 1981 und 1998 als „Abwehrphase“ überschrieben. Die unfreundlichere, aber ebenfalls zutreffende Beschreibung würde lauten: die Ära Helmut Kohls. In diesen knapp zwei Jahrzehnten, in die auch die deutsche Einigung fällt, unternahmen vor allem CDU/CSU-Politiker (aber nicht nur) immer wieder unterschiedslose Ausfälle gegen Ausländer, wenn sich damit (vermeintlich) Wählerstimmen binden ließen. Ab 1980 kündigte sich der Zusammenbruch der Nachkriegsordnung des Kalten Krieges in Form steigender Asylbewerberzahlen an: 1980 waren es erstmals mehr als 100 000, zwölf Jahre später war der vorläufige Höhepunkt mit 438 000 Antragstellern erreicht — und auch der der rechten Gewalt gegen Ausländer im Allgemeinen und Flüchtlinge im Besonderen.

Im September 1991 belagerte ein rassistischer Mob von bis zu 500 Einwohnern in Hoyerswerda (Sachsen) ein Wohnheim für Vertragsarbeiter und ein Flüchtlingswohnheim; Weiterlesen

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