Albert Vigoleis Thelen Roman-Auszug: „Die Insel des zweiten Gesichts“

Pünktlich zur Urlaubszeit erinnert in seiner Heimatstadt Viersen eine Ausstellung an den Schriftsteller Albert Vigoleis Thelen (1903-1989). In seinem Roman „Die Insel des zweiten Gesichts“ schilderte Thelen, wie es in den 1930er Jahren war, als Flüchtling auf einer Insel festzusitzen, auf der die Verfolger Ferien machen. Ein Auszug.

Albert Vigoleis Thelen: Roman-Auszug: „Die Insel des zweiten Gesichts“
Foto: Leo Fiethen

Für die Kathedrale ist eine halbe Stunde vorgesehen. Ich bitte die Gruppe, erst einmal den kolossalen Raum auf sich wirken zu lassen. Alle tun das, die Hälse recken sich wie bei Hühnern, über die der Habicht schwebt. „Einfach kolossal!“ — „Nicht wahr?“ Dann kommt die erste Frage: warum die Säulen, die das Mittelschiff tragen, nach innen leicht geneigt seien? Verdammt, das hatte ich noch nicht bemerkt, sie stehen tatsächlich schief. Der Turm von Pisa blitzt durch mein Hirn, kann ich mit dem hier was anfangen? Eine partielle Inklination? — und da bringe ich erst mal den Zimt, der immer weiter hilft: „Ihre Frage ist wichtig und zeugt von einem ungewöhnlichen Kombinationsvermögen. Vermutlich sind Sie Kunsthistoriker und werden als solcher eigene Wege gehen.“

Der junge Mann bejaht, da muß ich auf der Hut sein. Selbst auf ausgetretenen Pfaden können Fußangeln liegen. Vater und Mutter treten einen Schritt vor und blicken stolz auf den Sohn, der so gescheite Fragen stellt. Das ganze Schiff wird es heute abend schon wissen: der bringt es noch weit, der bringt Probleme ins Rollen und Führer in Verlegenheit — aber soweit sind wir noch nicht. Ich berufe mich auf einen Vorsokratiker, der einmal gesagt hat, die gut gestellte Frage sei die halbe Antwort, indessen ginge dieser Satz in der Kunstgeschichte nicht immer auf und hier in der Kathedrale schon gar nicht. Es umdunkeln sich die Blicke der Eltern, der Sohn sagt „bitte?“ und ich merke, daß ich seinem Prestige und damit dem meinigen schade.

Ich sage: Wir können von zwei Urideen ausgehen, von der religiösen und der bautechnischen, doch scheine es mir besser zu sein, die beiden zu vereinen, denn bekanntlich seien die großen Dome aus religiös-rhythmischer Versenkung und technisch-säkularem Schauvermögen entstanden. Darum bauten unsere Jahrhunderte keine Kathedralen mehr. Das wird bestätigt, und noch mehr wird bestätigt, was ich mit eleganten Handbewegungen vortrage. Vor allem der Kürbisgriff, der die begrenzte Unermesslichkeit des Domraumes im Raume noch einmal nachzeichnet, verfehlt seine Wirkung nie.

Der Student ließ mich aber nicht von der Leine, er war ausgesprochen lästig mit seiner Insistenz, und da sich wieder mehr Teilnehmer zu meiner Gruppe zurückgefunden hatten und mit schiefen Köpfen mithörten, musste ich mit der Sprache heraus. Ich strich mir den Verstand unter die Sohlen, gürtete die Plempe der Unverfrorenheit um und fand augenblicks des Rätsels Lösung: Mystische Neigung, die Säulen seien mystisch geneigt. So etwas muß man aber mit feierlich widerhallenden Ausdrücken sagen, dann ergreift es: „Inclinatio mystica, Herr Doktor, das ist Ihnen ja ein Begriff, und hier begegnen wir dem einzigen Fall in der mediaevalen Mystik, wo diese Tendenz direkt in den architektonischen Raum übertragen worden ist.“ Der Adept bestätigt vor der lauschenden Schar, dass er diese Sorte Neigung kennt. Weitere zehn Minuten Geschwafel, und geklärt war, wie die Baumeister die Pfeiler hatten aufziehen können, ohne daß ihnen der ganze Turmbau zusammenstürzte, denn sie stehen aus der Mittellinie, was einer der Teilnehmer, wohl ein Architekt, inzwischen festgestellt hatte.

Vigoleis wieder ran ans Zeug: Kärrner. Tausende Kärrner setzte er in Bewegung und ließ sie das ganze Schiff mit Sand füllen, um die Säulen vor dem Einsturz zu bewahren. Es schien mir das Ei des Kolumbus zu sein; aber Mißtrauen wurde laut, ein paar ungebildete Fratzen lachten, ein Herr zog einen Rechenschieber und sagte: „Na, mein Lieber, so ne kolossale Erdbewegung, das haben wir schnell.“ Meine Knie schwankten. Rechenschieber arbeiten zwar hinter dem Komma überhaupt nicht genau, und kurz davor lassen sie auch der Phantasie viel Spielraum; aber ich würde entlarvt und log mir doch nur 25 Peseten zusammen: keine Antwort schuldig bleiben! Ein Führer weiß alles.

„Na, mein Lieber, das hätten wir, alle Achtung! Beim Bau des Suezkanals. . . “ Alles lauschte dem Kanalsachverständigen. Ich atmete auf; ich war mit heiler Haut entkommen, die Kathedrale von Palma versank ins Nichts, die schiefen Säulen gaben nach, niemand kümmerte sich darum, denn es war ein Streit unter den Herrschaften entstanden, ob nicht Ferdinand von Lesseps, der Erbauer meines rettenden Kanals, doch ein Deutscher gewesen sei, und die Welt, die Neider, Deutschland auch diesen Ruhm wollten streitig machen; man denke nur an Johannes Gensfleisch zum Gutenberg, dem die Holländer ihren Coster vor die Nase setzen. . .

Gott war mit mir und gegen meine Deutschen, und da soll mir noch mal einer kommen und sagen, er wohne nicht in den nach ihm benannten Häusern!

Wir schlenderten weiter; ich wies auf die Fensterrose hin, deutsche Glasmaler hätten ihren Anteil an dem einzigartigen Werk, womit ich zufällig das Richtige traf. Dann kam wieder Ungereimtes, und haarig wurde es vor den steinernen Särgen, deren Inhalte ich durcheinander würfelte; keine Leiche blieb an ihrem heiligen Ort und keine wurde dem zugeschrieben, der sie im Leben gewesen war. Niemand merkte es, denn jemand hatte einen Vergleich mit deutschen Leichen angestellt, die viel besser seien. Das lenkte ab.

Und so ging es weiter, über die vorgesehene Zeit hinaus. Ich ließ Brunnen springen, wo keine waren, holte Sterne herunter, sargte Lebendige ein, alles für 25 Peseten. Leute, die I. Klasse reisen, sind aber zum Glück so gebildet, dass sie auf alles hereinfallen.

Aus: Albert VigoleisThelen: Die Insel des zweiten Gesichts. Aus den angewandten Erinnerungen des Vigoleis. Düsseldorf und Köln, 1953. Hier zitiert aus der dtv-Taschenbuchausgabe, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Ullstein-Verlags.

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