Im täglichen digitalen Trommelfeuer von Twitter, Insta und Co.

Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen über die Gereiztheit, die die Vernetzung in der Gesellschaft verursacht.

Im täglichen digitalen Trommelfeuer von Twitter, Insta und Co.
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Düsseldorf. Terrorwarnungen, Gerüchte, Fake-News, Skandale in Echtzeit — die vernetzte Welt schafft eine Stimmung von Nervosität und Gereiztheit. In Zeiten von Twitter, Facebook und Co., in denen jeder zum Sender geworden ist, gehört der kluge Umgang mit Informationen zur Allgemeinbildung und sollte in der Schule gelehrt werden. Das fordert der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen.

Herr Professor Pörksen, Sie sprechen in Ihrem neuen Buch von der „großen Gereiztheit“, zu der die Digitalisierung und Vernetzung führt. Was meinen Sie damit?

Bernhard Pörksen: Ich behaupte: Vernetzung heißt Verstörung. Wir sind gereizt, weil alles sichtbar geworden ist — die anonyme Hassattacke genauso wie das Folterfoto, die Bilder entsetzlicher Armut und die Belege des obszönen Reichtums. Unter den aktuellen Medienbedingungen kommen sich Menschen oft unerträglich nahe und alles wird sofort öffentlich. Eben diese neue Sichtbarkeit erzeugt, unabhängig von den konkreten Anlässen und den gerade aktuellen Reizthemen, Irritation und Gereiztheit.

Der Titel Ihres Buches ist eine Anspielung auf ein Kapitel in Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“.

Pörksen: Stimmt. Thomas Mann beschreibt, wie sich am Vorabend des Ersten Weltkriegs die Luft der Epoche geändert hat; im Sanatorium — auf dem Zauberberg — eskaliert die nebensächliche Missstimmung sofort zum Streit, herrschen mit einem Mal Nervosität, Unruhe, Wut. Mich hat dieses Zauberberg-Kapitel fasziniert, nicht nur weil es irrwitzig ko-misch und spektakulär gut geschrieben ist. Thomas Manns Grundgedanke lautet: Weltflucht ist illusionär; man kann nicht aussteigen, den Atmosphären der Zeit nicht entkommen.

So wie heute in der digitalen Gesellschaft.

Pörksen: Genau. Unter den Bedingungen vernetzter Kommunikation gilt heute auch, dass man sich emotional nicht mehr isolieren kann. Wir kriegen, unser Smartphone in der Hand, alles sofort mit: den Anschlag am anderen Ende der Welt, die neuesten Twitter-Verrücktheiten von Donald Trump, ein Spaß-Video, über das rund um den Globus gelacht wird.

Sie schreiben auch, dass die Menschen gereizt sind, weil sie nicht sicher wissen können, was von dem, was gera-de noch als Gewissheit erschien, eigentlich stimmt.

Pörksen: Ja, die digitale Öffentlichkeit ist heute barrierefrei zugänglich, jeder kann sich mit guten oder schlechten Absichten zuschalten. Und diese leichte Zugänglichkeit bedeutet nicht nur, dass es einen gewaltigen Informations- und Wissensreichtum gibt, von dem wir alle jeden Tag profitieren. Sie erlaubt auch die Manipulierbarkeit, sei es durch Social-Bots oder Fake-News-Aktivisten, die manchmal darauf zielen, politisch zu agitieren und manchmal einfach nur Geld verdienen wollen. Wir hören von Desinformation, von russischen Trollen und wissen, wie leicht sich digitalisierte Dokumente manipulieren lassen. Aber es fehlt fast immer die Möglichkeit zur persönlich-privaten Authentizitätskontrolle. In der Summe erzeugt eine solche Echtheitsungewissheit ein Gefühl der Verunsicherung, das zeige ich an vielen Beispielen.

Aber ist die digitale Medienwelt nicht auch urdemokra-tisch? Jeder bekommt jetzt — anders als in der alten Medi-enwelt — eine Stimme. Jeder kann mitreden.

Pörksen: Natürlich. Und eigentlich ist diese Demokratisierung von Öffentlichkeit eine wunderbare Nachricht. Vorausgesetzt, dass diejenigen, die nun eine Stimme haben, einigermaßen verantwortungsvoll handeln. Allerdings wäre es falsch zu sagen, dass die Gatekeeper völlig verschwunden sind und der öffentliche Raum zum Ort der totalen Freiheit geworden ist. Soziale Netzwerke wie Facebook oder Dienste wie Twitter funktionieren längst als unsichtbare Gatekeeper, die Informationsströme durch Algorithmen lenken und auf intransparente Weise darüber entscheiden, was man in seiner Timeline überhaupt zu sehen bekommt.

In Ihrem Buch führen Sie zahlreiche Beispielfälle an, in denen die Wucht des Netzes Einzelne in der Existenz gefährdet oder vernichtet hat. All das liest sich pessimistisch.

Pörksen: Oh je, da würde ich mich missverstanden fühlen. Ich bin kein Netzpessimist, kein Apokalyptiker, sondern schwanke manchmal täglich zwischen Euphorie im Angesicht des Informationsreichtums und der Vernetzungsmöglichkeiten — und Ekel im Angesicht der Kloake aus Hass und Brutalität. Mein Standpunkt ist eher: Wir müssen weg vom Entweder-Oder und der ungesunden Frontenbildung in den Netzdebatten der Gegenwart. Viel zu oft rufen die einen: „Smartphones machen dick, dumm und traurig!“ Und dann rufen die anderen zurück: „Vergesst die Bedenkenträger, schaut endlich auf die Chancen!“ Ich glaube, wir brauchen beide Perspektiven, um zu einem gerechten Urteil zu kommen. Und wir müssen uns klar machen: Wir sind in einer Phase der mentalen Pubertät im Umgang mit den digitalen Technologien — oft gehen wir mit ihnen noch zu un-bedacht, zu unreif und ohne das nötige Reflexionsvermö-gen um.

Was könnte getan werden?

Pörksen: Mein im Kern optimistisches Plädoyer zielt auf die Kraft von Bildung und Aufklärung. Schon in der Schule und eigentlich von Kindesbeinen an muss Medienmündigkeit eingeübt werden.

Sie selbst sprechen von der Utopie einer redaktionellen Gesellschaft.

Pörksen: Ja, das ist die Bildungsvision, die ich in diesem Buch entfalte. Was ist damit gemeint? In der redaktionellen Gesellschaft sind die Prinzipien und Normen des guten, gehaltvollen und nachdenklichen Journalismus zum Bestandteil der Allgemeinbildung geworden. Dazu gehört, dass man Quellen einschätzen kann, nicht einfach drauflos publiziert, sich um Wahrheitsfindung und unabhängige Analyse bemüht, Relevantes und Irrelevantes unterscheiden lernt, im besten Sinne skeptisch und im Bewusstsein, wie sehr Menschen zu Vorurteilen neigen und wie leicht sie auf Fälschungen hereinfallen. Früher, im Zeitalter der mächtigen Massenmedien, war dies die Kernkompetenz von Journalistinnen und Journalisten. Heute geht sie alle an, sollte an den Schulen gelehrt und von jedem beherrscht werden. Mein Punkt ist: Wenn jeder zum Sender geworden ist, dann muss auch jeder als sein eigener Redakteur handeln.

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