Per Mertesacker - Wenn Helden sich selbst entzaubern

Die Reaktionen auf Per Mertesackers Geständnis über den Druck des Profifußballs beweisen vor allem, wie wichtig es war.

 Per Mertesacker jubelt am 15.07.2014 beim Empfang an der Fanmeile am Brandenburger Tor in Berlin.

Per Mertesacker jubelt am 15.07.2014 beim Empfang an der Fanmeile am Brandenburger Tor in Berlin.

Foto: Daniel Naupold

Düsseldorf. So nachdenklich, wie Per Mertesacker sein kann, wird er es vermutlich geahnt haben: dass sein Geständnis, wie sehr ihm der Druck des Profifußballs zeitlebens zu schaffen machte, nicht auf ungeteiltes Verständnis stoßen würde. Aber vielleicht hat der 33-Jährige mit seiner „Spiegel“-Geschichte im Frühjahr vor seinem Karriereende ja auch gar nicht in erster Linie an die gedacht, die sich jetzt zu Wort melden. Sondern an die, die weiter den Mund halten. Auch das spräche für seine Reflexionsfähigkeit.

Darf ein Fußballprofi so etwas erzählen: dass ihn vor jedem Anpfiff ein Brechreiz packt; dass ihn die Halbfinalniederlage gegen Italien beim Sommermärchen 2006 vor allem erleichtert hat; dass Verletzungen nicht das allgemein vermutete Drama sind, sondern der einzige Weg, „eine legitimierte Auszeit zu bekommen, mal raus zu sein aus der Mühle“?

Versucht man die öffentlichen Kommentare und Reaktionen zu Mertesackers Einblicken in sein Seelenleben zu sortieren, dann ergeben sich grob gesagt drei Kategorien. In der ersten lobt man den Arsenal-Recken für seinen Mut, über die Schattenseiten des Profigeschäfts zu sprechen. In der zweiten gibt es im Prinzip auch Anerkennung, verbunden mit der Einschränkung, das sei im Vergleich zu den Nöten der vielen namenlosen Überforderten im alltäglichen Arbeitsleben doch eher eine Klage auf hohem Niveau. Die dritte schließlich umschreibt mit unterschiedlichen Worten den in ähnlichen Fällen so weit verbreiteten wie herablassenden Ausruf: „Heul doch!“

Gerade diese dritte Kategorie macht auch unmissverständlich klar, warum es im Hochleistungssport alle Problembekenntnisse jenseits der reinen Herausforderungen des nächsten Wettkampfs weiter so schwer haben. Weil sich da welche in Sphären bewegen, von denen Tausende andere nur träumen. Weil sie ihren Erfolg mit Ruhm, Einfluss und unfassbar viel Geld bezahlt bekommen. Und weil sie deshalb in den Augen vieler offenbar kein Recht mehr haben, unter Schwierigkeiten zu leiden wie jeder andere auch.

Darf ein Fußballprofi so etwas sagen? Genauso gut könnte man fragen: Darf ein Spitzenpolitiker, ein Filmstar, ein Wirtschaftsmanager so etwas sagen? Nicht nur der jeweilige Betrieb ist bei solchen Schwächebekundungen immer wieder gnadenlos, sondern auch das Publikum selbst. Denn einerseits dient die schaurig-schöne Phrase von der „Härte des Geschäfts“ gerne als Erklärung dafür, warum es ein Normalsterblicher und menschlich Gebliebener (also im Zweifel man selbst) eben nicht in die Spitzenetagen von Ruhm, Macht und Geld geschafft hat. Andererseits werden die Urteile schnell gefällt, wenn sich dort oben gerade doch einmal Überforderung, Versagensängste und Zweifel zu erkennen geben: zu weich; den Herausforderungen nicht gewachsen; hätte es ja nicht machen müssen; wird doch gut genug bezahlt dafür.

Wenn Helden sich selbst entzaubern, müssen sie immer damit rechnen, von einem Publikum abgestraft zu werden, dem sie als Projektionsfläche für seine eigenen Sehnsüchte und ungelebten Träume dienen. Und das in diesem täglichen Wechselspiel von Erwartungen und dem Kampf um deren Erfüllung keine Irritationen akzeptiert.

Eine Irritation ist, wenn jemand wie Mertesacker einen unmenschlichen Druck empfindet — und dennoch nicht aussteigt. Er hatte anders als der einfache Büroangestellte mit einem tyrannischen Chef doch finanziell alle Möglichkeiten dazu. „Es ist schwer zu erklären, aber es ist wie ein Strudel, aus dem du nicht herauskommst“, sagt er selbst dazu. „Leidenschaft ist ohne Leiden nicht zu haben“, hat der Bergsteiger Reinhold Messner unlängst im Interview mit dieser Zeitung gesagt.

Mertesackers Einblick in diese Leiden im Strudel reiht sich ein in ähnlich umstrittene Nahaufnahmen, zuletzt Martin Schulz’ Titelstory ebenfalls im „Spiegel“. Dass diese Einblicke den still Leidenden im System helfen oder gar eine grundlegend realistischere Bewertung gesellschaftlicher Eliten bewirken — unwahrscheinlich. Eher schon könnten sie manchen Nachwuchskräften die Augen öffnen.

Lothar Matthäus hält Mertesacker nach dessen Bekenntnissen nicht mehr für geeignet, nach dem Karriereende im Sommer die Nachwuchsakademie von Arsenal zu übernehmen. Nach dem Artikel vom Wochenende könnte man aber auch sagen: Es gibt für diese Aufgabe keinen Besseren als ihn.

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