Was der drohende Landärztemangel bedeutet

In NRW gibt es auf dem Land die Sorge, dass ein Mangel an Ärzten zu einem ernsten Problem werden könnte. Manche Kleinstadt geht in die Offensive — mit Geld.

Was der drohende Landärztemangel bedeutet
Foto: dpa

Neuenrade. Wenn man Michael Beringhoff fragt, was einen Landarzt zum Landarzt macht, hat er eine einfache Antwort: „Du musst zwei Bauern kennen und einen Trecker haben.“ Beides treffe ganz klar auf ihn zu, versichert Beringhoff. Er geht daher offensiv mit dem Thema um. An seiner Praxis im Ort Neuenrade im Sauerland hat er ein Schild „Landarztpraxis“ angebracht.

Was der drohende Landärztemangel bedeutet
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Die passende Definition mit dem Trecker ist dem Allgemeinmediziner vor mehr als zehn Jahren eingefallen. Damals sei das ja noch nicht so ein riesiges Thema gewesen, das Landarzt-Dasein, sagt er. Da musste man noch erklären. Anders als heute. Heute ist es das große Thema. Vor allem in Orten wie Neuenrade, umgeben von Wäldern und Wiesen.

Landärztemangel ist in den vergangenen Jahren zu einem geflügelten Wort geworden, wenn es um das deutsche Gesundheitssystem geht. In einigen ländlichen Gegenden liegen schon beachtliche Wege zwischen Patient und Arzt. Andere Orte fürchten sich vor der drohenden Entwicklung, weil ihre Ärzte immer älter werden, aber keinen Nachfolger finden, der in die Provinz ziehen will. NRW plant deshalb eine „Landarzt-Quote“ im Medizin-Studium. Am schlimmsten ist der Ärztemangel nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Ostwestfalen.

Ein Anlass, die Entwicklung zu beleuchten, ist der von der Weltgesundheitsorganisation WHO ausgerufene Weltgesundheitstag am 7. April. Er steht 2018 unter dem Motto „Flächendeckende Gesundheitsversorgung“. Gemeint ist das Ziel, dass jeder Mensch Gesundheitsdienstleistungen in Anspruch nehmen können sollte — unabhängig von Ort und Zeit. Und ohne in finanzielle Nöte zu geraten.

In globalen WHO-Zusammenhängen betrachtet muss man sich um NRW keine großen Sorgen machen. Zum Vergleich: Weltweit hatten laut WHO 2017 mindestens 400 Millionen Menschen keinen Zugang zu einem Arzt. Die deutschen Probleme beginnen verglichen damit erst auf deutlich höherem Niveau. Dennoch treibt die Frage nach drohenden Lücken im System mittlerweile auch hierzulande viele Leute um: Patienten, Wissenschaftler, Ärzte, Politiker.

Zurück nach Neuenrade im Sauerland. Etwa 12 000 Einwohner, kurze Wege. Die Handynummer von Bürgermeister Antonius Wiesemann steht im Internet. Die Kleinstadt hat sich jüngst für eine recht radikale Variante entschieden, um Ärzte anzulocken: Geld. Wer Neuenrade erfolgreich einen neuen Arzt vermittelt, bekommt 10 000 Euro.

Bürgermeister Wiesemann sieht es als Investition in die Zukunft. Noch gebe es im Ort sechs Allgemeinmediziner. „Aber unser Problem ist, dass wir einen sehr hohen Altersdurchschnitt haben“, sagt er. Der älteste sei 77. Neuenrade hat Flyer gedruckt, hat sich auf Messen gezeigt, um Mediziner zu locken. Die Resonanz: keine. „Es ist ein Problem der Köpfe“, meint der Bürgermeister. Jahrelang seien ländliche Gegenden negativ dargestellt worden. Die Kassenärztlichen Vereinigungen hätten da schon vor Jahren stärker eingreifen müssen.

Dabei gibt es heute eigentlich mehr berufstätige Ärzte als noch vor einigen Jahren. Auch in NRW waren es 2017 wieder mehr, die Zahl stieg um fast 1400 auf nun etwa 82 000 Ärzte. „Zugleich haben wir aber auch gesellschaftliche Veränderungen“, erklärt Roland Stahl, Sprecher der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Die Menschen zieht es in die Städte. Und auf den Dörfern seien auch andere Strukturen verloren gegangen. „Der Supermarkt macht zu und die Post zieht weg. Dort kann man ehrlicherweise nicht erwarten, dass ein Arzt trotz allem bleibt.“

Natürlich müsse man die Versorgung sicherstellen. Aber dazu gehöre, sich Konzepte zu überlegen, all das aufzufangen. „Wir müssen uns von dem Bild des Landarztes aus dem Fernsehen, der im Sonnenschein mit dem Jeep herumfährt und sieben Tage die Woche und 24 Stunden am Tag Probleme löst, verabschieden“, sagt Stahl.

Der Gesundheitsforscher Gerd Glaeske sieht die Kassenärztlichen Vereinigungen in der Pflicht. „Sie müssten das lösen — mit finanziellen Anreizen“, sagt er. „Es geht nicht nur um die Umverteilung der Köpfe, auch um die Umverteilung der Honorare.“

Um die Notfall- und Akutversorgung müsse sich niemand in Deutschland sorgen, sagt der Forscher. Die sei beispielhaft gut. Aber die Gesellschaft werde älter und damit gebe es absehbar mehr chronisch Kranke, die betreut werden müssten. „Deshalb ist es wichtig, dass die betreuenden Ärztegruppen, die dauerhaft Patienten begleiten, von ihrer Erreichbarkeit her vernünftig positioniert sind.“

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