Brandanschlag in Solingen: Der Name Genç steht für Versöhnung

Künftig will das Land NRW eine nach der Solingerin Mevlüde Genç benannte Medaille verleihen. Die Gedenkfeier in der Staatskanzlei bleibt frei von Misstönen.

Brandanschlag in Solingen: Der Name Genç steht für Versöhnung
Foto: dpa

Düsseldorf. Eigentlich sind die Umstände unzumutbar. Der völlig überfüllte Konferenzraum im vierten Stock unter dem Dach der Staatskanzlei ist ein Glutofen. Eine mobile Klimaanlage kämpft hilflos gegen die Hitze an, Fenster werden aufgerissen, die Gäste in den Sitzreihen kommen mit ihren improvisierten Fächern nicht gegen die Schweiß tröme an. Und hier sollen gleich die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, der türkische Außenminister und der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen gemeinsam mit Mevlüde Genç der Opfer des Brandanschlags von Solingen gedenken? Warum bloß um alles in der Welt konnten sich die Fraktionen nicht zu einer Veranstaltung im Landtag durchringen?

Dann betritt Mevlüde Genç selbst den Raum — und augenblicklich implodieren das Gespött, der Unmut und das Stöhnen. Nein, Würde ist an diesem Tag dann doch keine Frage der Temperaturen. Und was Haltungsfragen angeht, setzt diese mittlerweile 74-jährige Frau ohnehin von der ersten Sekunde an die Maßstäbe.

Armin Laschet nimmt an ihrer linken Seite Platz. Sie wird ihn später „meinen sehr verehrten Bruder“ nennen. Und der Ministerpräsident schlägt ähnlich persönliche Töne an, als er freimütig von seiner Unsicherheit als damaliger Integrationsminister des Landes vor der ersten Kontaktaufnahme mit der Familie Genç erzählt. Selbst ein Anruf sei aufgrund der Sprachbarrieren nicht möglich gewesen. Als Türöffner fungierte schließlich der Grüne Cem Özdemir.

Der Anschlag vor 25 Jahren habe „Menschen in unserer Mitte“ getroffen, sagt Laschet, „Bürgerinnen und Bürger von Nordrhein-Westfalen.“ Und dann zitiert er den jüdischen Talmud: „Achte auf deine Gedanken, denn sie werden Worte. Achte auf deine Worte, denn sie werden Handlung.“ Ein Appell für einen bedachtsamen Umgang mit Sprache im politischen Streit, die nicht den Weg bereiten dürfe für menschenverachtende Taten.

Danach tritt der türkische Außenminister Mevlüt Çavusoglu ans Rednerpult — und will man nicht schon die Tatsache an sich, dass er Teil des Gedenkens in der Staatskanzlei ist, als indirekte Wahlkampfwerbung werten, bietet er keinen Anlass, an seiner Rede Anstoß zu nehmen.

Çavusoglu spricht von dem Wunsch aller türkischstämmigen Menschen in Deutschland, sich als gleichberechtigtes Mitglied der Gesellschaft zu fühlen. Er erinnert an die Serie rechtsradikal motivierter Anschläge in Deutschland. Und er versichert, der einzige Grund für seine Teilnahme am Gedenktag seien das Eintreten gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sowie die Bereitschaft zum Zusammenhalt.

Angela Merkel eilt nicht der Ruf voraus, zu den empathischsten Rednerinnen der Republik zu gehören. Und doch merkt man ihr sofort an, dass hier kein Wort bloße Routine ist. Die übliche Ansprachen-Lautstärke ihrer Stimme ist gedämpft, ihre bekannten Satzmelodien klingen weniger stereotyp. Und als sie sich ganz am Ende ihrer Rede bei Mevlüde Genç und ihrer Familie bedankt, „dass ich heute zu Ihnen sprechen durfte“, entschwindet ihre Stimme fast im Ergriffenheits-Schweigen.

Zuvor hatte sie sich sprachlich vor der Mutter der Opferfamilie verneigt: „Auf eine unmenschliche Tat haben Sie mit menschlicher Größe reagiert. Dafür bewundern wir Sie!“ Und dann gibt die Kanzlerin noch ein bemerkenswertes Bekenntnis ab zu staatlichem Versagen beim Kampf gegen den Rechtsextremismus: „Wir wissen, und dieses Wissen schmerzt, dass auch unsere Behörden zum Teil gravierende Fehler und Versäumnisse machen. Dafür kann ich und können wir als Bundesregierung nur um Verzeihung bitten.“

Als Letzte tritt Mevlüde Genç selbst, geleitet von Armin Laschet, ans Mikrofon. Seit 25 Jahren weine sie in der Nacht und lache am Tag ihren verbleibenden Kindern ins Gesicht, damit der Hass nicht Einzug in ihre Herzen erhalte. Die „lichte, helle Welt“ dürfe man nicht zu einem Kerker werden lassen. Ihr persönlicher Schmerzt ist mit den Jahren nicht schwächer geworden, sondern stärker. Und doch: „Lasst uns nach vorne schauen.“

Das will auch das Land in ihrem Namen tun. Armin Laschet kündigt zum Schluss an, künftig werde jährlich eine mit 10 000 Euro dotierte Mevlüde- Genç-Medaille an Gruppen oder Persönlichkeiten verliehen, die sich für Versöhnung einsetzen. „So wird Ihr Name auch noch in vielen, vielen Jahren in Erinnerung bleiben im Land Nordrhein-Westfalen.“

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