Fußball-WM Warum der Sieg gegen Schweden für Löw so ziemlich alles bedeutet

Deutschland schlägt Schweden 2:1. Niemals zuvor rotierte der Bundestrainer intensiver. Mehr Dramatik geht nicht mehr. Löws Coolness nach dem Spiel dürfte ihm eine Menge abverlangt haben.

 Zufrieden: rainer Joachim Löw aus Deutschland geht nach dem Spiel lächelnd über den Platz.

Zufrieden: rainer Joachim Löw aus Deutschland geht nach dem Spiel lächelnd über den Platz.

Foto: Andreas Gebert

Sotchi. Die Erleichterung ist ihm anzusehen. Was für eine nervliche Anspannung über 95 Minuten, was für ein Wechselbad der Emotionen. Für Joachim Löw ging es in diesem Spiel um viel mehr als nur einen sportlich überlebensnotwendigen Sieg. Dem Weltmeister ist durch den 2:1 (0:1)-Erfolg gegen Schweden das drohende Aus in der Vorrunde erspart geblieben. Bis kurz vor Ende der Nachspielzeit standen vor 44287 Zuschauern in Sotschi die Zeichen auf vorzeitigen Abschied aus Russland, die „Mission Titelverteidigung“ bei der Fußball-Weltmeisterschaft vor dem Scheitern. Aber dann traf Toni Kroos mit einem Traum-Freistoß entscheidend, der Weltmeister kann durch einen hohen Sieg gegen Südkorea in Kasan sogar noch Gruppenerster werden.

„Das war ein Krimi, das war Dramatik pur, und ich bin einfach nur erleichtert, dass wir es geschafft haben. Und ich habe mich für Toni Kroos gefreut, er hat durch einen Fehlpass das Gegentor verursacht und entscheidet das Spiel mit seinem Freistoß“, sagte der Bundestrainer, als es auf Mitternacht zugeht. Hätte Löw dieses Spiel verloren, es wäre ihm womöglich nur der Rücktritt als Konsequenz geblieben. Das ist alles kein Thema mehr. „Mir hat gefallen, dass wir nie die Nerven verloren haben, auch nach Rot für Jerome Boateng nicht, wir haben große Moral bewiesen, ich habe immer daran geglaubt, dass wir dieses Spiel noch drehen können.“ Das sagt sich allerdings leichter als es die Realitäten des Spiels ausweisen.

Ein unerklärlicher Fehlpass von Kroos bedeutet in der 32. Minute die Führung der Schweden. Victor Claesson spielt auf Ola Toivonen, der hebt den Ball, abgefälscht durch den zu spät kommenden Antonio Rüdiger, über Torwart Manuel Neuer hinweg zum 1:0 für Schweden ins Netz. „Das war ein Schock, nach dem Tor waren wir ausgeschieden, aber nach dem 2:1 sind mir die Tränen gekommen, das muss der Wendepunkt sein für uns“, sagt Timo Werner nach dem Spiel. Toni Kroos sagt: „Das Tor geht klar auf mich. Aber wenn man fast 200 Ballkontakte in einem Spiel hat, geht eben auch schon einmal etwas daneben. Ich bin froh und glücklich, dass ich der Mannschaft mit meinem Freistoßtor am Ende helfen konnte.“

Marco Reus, als Spieler des Spieles ausgezeichnet, erzielte in der 49. Minute den Ausgleich. Was danach kam, war nichts für schwache Nerven. „Toni hat das super gemacht, Respekt“, sagt Reus, der den Freistoß selbst schießen wollte. Toni Kroos: „Das hat mir nicht gefallen, Marco wollte direkt schießen. Ich wollte durch einen Kurzpass mit Marco aber einen besseren Winkel, und das hat funktioniert.“ Die Schweden reagieren konsterniert. „Das 1:2 ist das denkbar schlechteste Ergebnis für uns“, sagte Trainer Janne Andersson, der sich nach dem Schlusspfiff über die Faxen jubelnder Weltmeister vor seiner Coaching-Zone aufregte: „Das hat mich geärgert, nach einem solchen Spiel gibt man sich die Hand.“ Löw wollte mögliche „abwertende Gesten“ seiner Spieler nicht gesehen haben, „weil ich meine Co-Trainer nach dem Spiel abgeklatscht habe“.

Joachim Löw überraschte mit seinem Aufgebot auf der ganzen Linie, niemals zuvor in seiner Karriere rotierte der Bundestrainer von einem Turnierspiel zum anderen intensiver. Nicht Niklas Süle, sondern Antonio Rüdiger kam für den verletzten Mats Hummels. Auf der linken Seite spielte der Kölner Jonas Hector für Marvin Plattenhardt. Noch überraschender die Nominierung von Sebastian Rudy für Sami Khedira, sensationell fast der Verzicht auf Mesut Özil, der seit dem Turnier in Südafrika 2010 immer in der Startelf stand. Reus rückte erwartungsgemäß in zentraler Offensivposition ins Team. Dass Khedira und Özil auf die Ersatzbank mussten, entspricht einem zuvor nie dagewesenen Gedankenwandel von Löw, einer Abkehr von den erklärten Stützpfeilern. Löw tat das ab: „Es wird immer so sein, dass im Rahmen eines Turniers Umstellungen vorgenommen werden müssen.“ Nach der Blamage gegen Mexiko hatte Löw noch gesagt: „Man muss in einem Turnier wechseln, aber nie vier oder fünf Spieler.“ Im defensiven Mittelfeld hielt der Bundestrainer wie erwartet an Toni Kroos fest, auf der rechten Seite gab es eine neue Bewährungschance für Thomas Müller, wobei die Offensivspieler ständig die Positionen wechselten.

„Wir müssen liefern“, hatte Löw am Vortag ultimativ gefordert. Und die Mannschaft lieferte. Chancen im Minutentakt, aber die Skandinavier, gut eingestellt von Andersson, verteidigten souverän und waren durch Konter, vorwiegend eingeleitet durch den Leipziger Emil Forsberg, eminent gefährlich. In der 13. Minute standen die Schweden vor der Führung, als Marcus Berg von Jerome Boateng elfmeterreif gestoppt wurde, der Pfiff von Schiedsrichter Szymon Marciniak aus Polen aber ausblieb. Andersson: „Ein klarer Strafstoß.“

In der 31. Minute kam Ilkay Gündogan für Rudy, der mit gebrochenem Nasenbein ausgewechselt werden muss, nach der Halbzeit Gomez für den enttäuschenden Draxler. Angriff auf Angriff rollt auf das schwedische Tor, die Skandinavier verteidigen leidenschaftlich. Die Schlussphase ist dramatisch. Nach Rot für Boateng trifft der eingewechselte Julian Brandt in der Nachspielzeit den Pfosten, Mario Gomez scheitert mit einem Kopfball an der Glanzparade des schwedischen Torwarts. Und dann trifft Kroos in der Schlussminute unhaltbar, großartig und entscheidend, mehr Dramatik geht nicht. Damit bleibt dem amtierenden Weltmeister das Schicksal der Italiener bei der Endrunde 2010 und das der Spanier bei der Endrunde 2014 in Brasilien vorerst erspart. Deutschland ist weiter im Turnier, die „Mission Titelverteidigung“ lebt.

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